Warum standardisierte Therapiepläne nicht mehr ausreichen - und wie HRV-gesteuerte Therapie mit Wearables & KI bessere Ergebnisse ermöglicht
- Dr. Reiner Kraft

- vor 21 Stunden
- 5 Min. Lesezeit

In den letzten Jahren habe ich in meiner Arbeit immer wieder dasselbe Muster beobachtet. Unabhängig davon, ob es um IHHT, hyperbare Sauerstofftherapie, Vitamin-C-Infusionen, Ausleitungsverfahren oder andere regenerative Interventionen ging -die Therapiepläne sahen fast immer gleich aus: feste Sitzungszahlen, fixe Wochenfrequenzen, im Voraus durchgeplante Termine. Zwei Einheiten pro Woche, zehn Sitzungen insgesamt. Dann Pause. Dann weiter.
Aus praktischer Sicht ist das nachvollziehbar. Termine lassen sich besser organisieren, Abläufe standardisieren, Therapien vergleichen. Und lange Zeit habe ich diese Struktur nicht grundsätzlich infrage gestellt.
Doch je häufiger ich mit Menschen gearbeitet habe, desto öfter kam mir eine einfache, aber unbequeme Frage: Woher wissen wir eigentlich, dass der Körper an genau diesem Tag bereit ist, diesen Reiz sinnvoll zu verarbeiten?
Denn biologisch betrachtet verläuft Anpassung nicht nach Kalenderwochen. Der Organismus hat gute Tage, fragile Tage, Integrationsphasen und Belastungsspitzen. Trotzdem werden Therapien häufig unabhängig vom aktuellen Systemzustand durchgeführt - nicht weil es optimal ist, sondern weil es so geplant wurde.
Der Wendepunkt kam, als ich begann zu sehen, dass es auch anders geht. Dass deutlich bessere, stabilere Ergebnisse möglich sind, wenn therapeutische Reize nicht „abgespult“, sondern im Einklang mit dem autonomen Nervensystem gesetzt werden. Wenn man nicht nur fragt was man macht, sondern wann der Körper dafür offen ist.
Diese Beobachtungen waren die eigentliche Motivation für diesen Artikel. Nicht als Kritik an bestehenden Therapien, sondern als Einladung, sie präziser, intelligenter und biologisch stimmiger einzusetzen.
Ein neuer Blick auf Therapie, Adaptation und Wirksamkeit
In vielen medizinischen und therapeutischen Bereichen sind standardisierte Behandlungsprotokolle der Goldstandard: IHHT zweimal pro Woche, zehn Sitzungen. HBOT fünfmal pro Woche über mehrere Monate. Kälte, Hitze, Training, Supplemente - alles nach festem Kalender.
Diese Protokolle haben ihre Berechtigung. Sie sind wie gesagt einfach planbar, gut studierbar und funktionieren im Durchschnitt.
Doch genau hier liegt das Problem:Der menschliche Körper funktioniert nicht im Durchschnitt.
Das ungelöste Problem klassischer Therapieansätze
Die meisten Therapieprotokolle orientieren sich an:
Zielorganen (Tumor, Mitochondrien, Entzündung)
Reizdosis (Frequenz, Dauer, Intensität)
Zeitplänen (x Sitzungen pro Woche)
Was dabei meist nicht berücksichtigt wird, ist eine entscheidende Variable:
Die aktuelle Fähigkeit des Organismus, den Reiz überhaupt zu verarbeiten.
In der Praxis bedeutet das:
Therapien werden durchgeführt, auch wenn das autonome Nervensystem bereits überlastet ist
Herzratenvariabilität (HRV) sinkt, Entzündungsmarker steigen, Erschöpfung wird „in Kauf genommen“
Anpassung geschieht unter Stress – nicht unter optimalen Bedingungen
Das ist nicht falsch. Aber es ist biologisch ineffizient.
HRV: Der fehlende Steuerparameter in der modernen Therapie
Die Herzratenvariabilität (HRV) ist kein Lifestyle-Gadget-Wert.Sie ist ein hochvalider Marker für die Adaptationsfähigkeit des autonomen Nervensystems. ¹ ²
Vereinfacht:
Hohe HRV = System ist flexibel, aufnahmefähig, anpassungsbereit
Niedrige HRV = System ist unter Last, Schutzmechanismen dominieren
Wichtig dabei:HRV misst nicht „Fitness“ oder „Wohlbefinden“,sondern die biologische Kapazität zur Reizverarbeitung.
Und genau das entscheidet darüber, ob eine Therapie:
eine gezielte Anpassung auslöst
oder lediglich zusätzlichen Stress erzeugt
Zwei Therapiephilosophien im Vergleich
Klassischer Ansatz
Therapie nach Kalender
Feste Frequenzen
Fokus auf Zielorgan
Reaktion des Systems wird nachrangig betrachtet
HRV-gesteuerte Therapie
Therapie nach Systemzustand
Adaptive Frequenzen
Fokus auf Gesamtadaptation
Reiz nur bei „offenem“ System
Beide Ansätze können wirken.Doch sie wirken unterschiedlich tief.
Warum mehr Therapie nicht automatisch bessere Ergebnisse liefert
Ein verbreiteter Irrtum lautet:
„Wenn eine Therapie wirkt, wirkt mehr davon besser.“
Biologisch stimmt das nur eingeschränkt.
Anpassung entsteht nicht durch den Reiz selbst, sondern durch die Antwort des Organismus auf den Reiz.
Wenn das autonome Nervensystem:
überlastet ist
entzündlich reagiert
in Schutzmodi bleibt
dann wird selbst eine hochwertige Therapie:
schlechter integriert
immunologisch unspezifischer
langfristig weniger wirksam
HRV zeigt genau diesen Zustand an - in Echtzeit.
Wearables als medizinische Schnittstelle
Moderne Wearables (z. B. Oura, Whoop, Garmin) liefern heute:
nächtliche HRV
Ruhepuls
Schlafarchitektur
Stress- und Erholungsmarker
Was bisher fehlte, war:
Eine intelligente Interpretation dieser Daten im therapeutischen Kontext.
Hier beginnt der eigentliche Fortschritt.
Die Rolle von KI: Vom Messen zum Steuern
KI ermöglicht erstmals:
tägliche Kontextualisierung von HRV-Daten
Verknüpfung mit Therapien, Bewegung, Schlaf, Ernährung
adaptive Entscheidungslogiken statt starrer Pläne
Beispiel:
HBOT nur, wenn HRV über individueller Schwelle liegt
IHHT pausieren bei vegetativer Überlastung
Integrationstage gezielt einsetzen, statt „Lücken zu füllen“
Das Ergebnis:
weniger Rückschritte
bessere Therapieantwort
höhere Nachhaltigkeit
bessere Langzeitergebnisse
Nicht durch mehr Therapie –sondern durch besser platzierte Therapie.
Besonders relevant bei komplexen Zielen
Ein HRV- und KI-gesteuerter Ansatz ist besonders sinnvoll bei:
onkologischen Therapiestrategien
Mitochondrienaufbau
Immunmodulation
Longevity-orientierten Programmen
Patienten mit hoher Reizsensitivität
Hier entscheidet nicht die maximale Intensität,sondern die Präzision der Intervention.
Wie lässt sich dieser Ansatz praktikabel umsetzen?
Ein HRV- und KI-gesteuerter Therapieansatz ist kein Selbstläufer. HRV-gesteuerte Therapie funktioniert nur dann, wenn der Patient bzw. Klient bereit ist, aktiv mitzudenken und mitzuwirken.
Genau hier liegt zugleich seine größte Stärke - und seine größte Hürde. Denn dieser Ansatz fordert mehr als klassisches „Therapie konsumieren“. Er verlangt Einsicht, Eigenverantwortung und tägliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Systemzustand. Das bedeutet ganz konkret: Daten erfassen, reflektieren, Entscheidungen anpassen.
Für viele Menschen ist das zu viel. Und das ist völlig legitim. Für diese Gruppe wird der standardisierte Therapieansatz weiterhin der richtige sein - klar strukturiert, planbar, mit minimalem Eigenaufwand. Standardisierte Protokolle haben deshalb weiterhin ihren festen Platz.
Für diejenigen jedoch, die bereit sind, diesen zusätzlichen Schritt zu gehen, braucht es praktikable Werkzeuge.
Die technische Basis ist heute vergleichsweise einfach: In der Regel empfiehlt sich ein Wearable zur HRV-Erfassung - etwa ein Oura Ring oder ein Whoop-Armband. Auch Smartwatches wie die Apple Watch können eine Option sein, auch wenn sie nachts nicht von jedem als angenehm empfunden werden. Entscheidend ist weniger das Gerät als die kontinuierliche, valide Erfassung.
Der zweite Baustein ist die Interpretation. Hier entfaltet KI ihren eigentlichen Nutzen. In Kombination mit einer Plattform wie der EVER App - inklusive KI-Integration - können Patienten ihren Wochenplan selbstständig gestalten, täglich aktualisieren, morgens synchronisieren und abends reflektieren. Therapie wird so nicht ersetzt, sondern intelligent eingebettet.
Die größte praktische Herausforderung entsteht dort, wo Therapien an feste Strukturen gebunden sind: Arztpraxen, Therapiezentren, invasive Verfahren. Eine HRV-gesteuerte Logik erfordert Flexibilität - manchmal sogar kurzfristige Entscheidungen am Vortag oder am selben Tag. Das ist für viele therapeutische Settings organisatorisch schwer abbildbar.
In der Praxis bedeutet das oft einen hybriden Ansatz: Was flexibel und eigenständig möglich ist, wird zu Hause oder autonom umgesetzt. Was zwingend professioneller Begleitung bedarf, folgt weiterhin festen Terminen - idealerweise mit einer gewissen Toleranz für Anpassung.
Dieser Ansatz hat also klare Vor- und Nachteile. Er ist nicht für jeden geeignet. Aber für jene, die bereit sind, aktiv mitzuwirken, eröffnet er eine neue Qualität von Therapie: präziser, nachhaltiger und biologisch stimmiger.
Nicht als Ersatz klassischer Medizin, sondern als deren nächste Entwicklungsstufe für die, die sie nutzen wollen.
Fazit: Therapie braucht Steuerung, nicht nur Planung
Standardisierte Protokolle sind ein guter Startpunkt.Aber sie sind nicht das Ende der Entwicklung.
Die Zukunft der Therapie ist adaptiv, datenbasiert und systemorientiert.
Wearables liefern die Daten. KI liefert die Einordnung. Der Mensch liefert die Umsetzung.
Therapie wirkt nicht durch den Reiz, sondern durch die Fähigkeit, auf den Reiz zu antworten.
Und genau diese Fähigkeit lässt sich heute messen –und intelligent steuern.
Wie geht es weiter?
Ein HRV- und KI-gesteuerter Ansatz lässt sich heute bereits praktisch umsetzen – für Menschen, die bereit sind, aktiv mitzuwirken.
Drei mögliche nächste Schritte:
Für Therapeut:innen: In meiner Longevity Coaching Ausbildung vermittle ich, wie HRV, Systemzustand und KI sinnvoll in die Therapieplanung integriert werden.
Für Prävention & Longevity: Das Full-Body-Reset-Programm bietet einen strukturierten Einstieg, um diesen Ansatz für die eigene Gesundheit praktisch anzuwenden.
Für digitale Umsetzung:Über die EVER-App können Therapeuten und Anwender diesen dynamischen Ansatz testen und schrittweise in den Alltag integrieren.
Nicht jeder braucht diesen Weg. Aber wer Therapie präziser steuern will, kann heute damit beginnen.
Referenzen
[1] Task Force of the European Society of Cardiology and the North American Society of Pacing and Electrophysiology. Heart Rate Variability: Standards of Measurement, Physiological Interpretation and Clinical Use. Circulation. 1996;93(5):1043–1065. (AHA-Reader / Volltext) https://europepmc.org/article/MED/8737210
[2] Shaffer F, Ginsberg JP. An Overview of Heart Rate Variability Metrics and Norms. Frontiers in Public Health. 2017;5:258. doi:10.3389/fpubh.2017.00258 (Volltext) https://www.frontiersin.org/journals/public-health/articles/10.3389/fpubh.2017.00258/full




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